Auf dem Weg zur Arbeit holten sich die Hafenarbeiter ihren Kaffee und die Mettwurststulle, nährten sich mit Frikadellen und Kartoffelsalat für ihre kräftezehrende Arbeit. Die Oberhafen-Kantine war eine der letzten Kaffeklappen, die in Hamburg gebaut wurden, und es ist die einzige, die steht. Sie ist ein typischer Vertreter des norddeutschen Klinkerexpressionismus und einer der wenigen außen und innen original erhaltenen Kleinbauten der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – eine Freude für jeden Architekturhistoriker und ein Gebäude von hohem dokumentarischen Wert.
Das Gebäude wurde 1925 vom Kantinenwirt Hermann Sparr erbaut, die Pläne lieferte der Architekt Willy Wegner. Im selben Jahr entstand auch das berühmte Chilehaus, die Millionen von Ziegelsteinen für diese Baustelle wurden damals mit Lastkähnen über den Oberhafen angeliefert. Es geht die Rede, dass einige davon in Sparrs neuer Kantine Verwendung fanden … im Tausch gegen die eine oder andere Kanne Bier …
Den Krieg überstand die Oberhafen-Kantine unbeschadet, aber Sturmfluten und Unterspülungen brachten das Gebäude in eine gefährliche Schräglage. Wegen akuter Einsturzgefahr wurde die Oberhafen-Kantine im Mai 1997, wenige Wochen nach dem Tod der Wirtin Anita, vom Ordnungsamt geschlossen. Direkt mit dem Ableben der Ur-Wirtin schien das Gebäude nun auf den Abriss zu warten.
Im Jahr 2000 stellte aber die Stadt Hamburg recht unerwartet die Oberhafen-Kantine unter Denkmalschutz, und zwei Jahre später kaufte der Hamburger Klausmartin Kretschmer das marode aber wertvolle Häuschen. Kretschmer hatte schon immer einen Faible für ungewöhnliche Immobilien. 2005 begann die aufwendige Sanierung. Das Ziel: alles wieder so herstellen, wie es war. Der Schankraum sieht jetzt wieder so aus, als könnte gleich Anita um die Ecke biegen. Selbst der fußkurbelbetriebene Speisenaufzug, eine Rarität, funktioniert.
Im April 2006 eröffnete die Oberhafen-Kantine nach neun Jahren Pause wieder ihre Pforte, geleitet von Christa Mälzer, Mutter des TV-Kochs Tim Mälzer. Nach der Sturmflut, die im November 2007 die Küche absaufen ließ, gab sie aber schon wieder auf. Artisan-Chef Thorsten Gillert übernahm die Kantine bis Dezember 2010. Leider ebenso glücklos, wie Christa Mälzer. Beide schafften es nicht, der Oberhafen-Kantine wieder das Leben einzuhauchen, welches sie zu Lebzeiten von Anita hatte.
Durch einen Zufall lässt dann im Februar 2011 Sebastian Libbert, Gastronom aus Leidenschaft und ehemals Betreiber des Rialto an der Fleetinsel, der Weltbühne und des Canaletto, den Geist und die Tradition neu auf- und weiterleben. Seit dieser Zeit haben er und seine Mitarbeiter langsam, aber bestimmt, die Oberhafen-Kantine wieder in die Herzen der Gäste gekocht und dem schiefen Häuschen zu seiner Bekanntheit weit über die Tore der Stadt hinaus verholfen. Drei Sturmfluten, Xaver 2013 Herwart 2017 und Zeynep 2022 konnten sie trotz vollgelaufener Küche und Erdgeschoss, monatelanger Instandsetzungsarbeiten und dadurch sehr angespannter wirtschaftlicher Situation trotzen. Bei Sabine 2020 wurde innerhalb von 3 Tagen die gesamte Küche aus- und wieder eingebaut. Die Kantine entging den Wassermassen nur um Haaresbreite. Und auch Corona konnte die Stirn geboten und die Mitarbeiter gehalten werden. Liebe und Leidenschaft setzen sich halt durch. Und der gute Geist des Hauses tut seinen Rest dazu …
Wer zuletzt vor 20 Jahren da war, wird ihn kaum wieder erkennen, und wer in 20 Jahren wiederkommt, erst recht nicht. Hier wächst die Hafencity, Europas größtes Stadtplanungsprojekt, das Signal einer reichen Handelsmetropole an die Welt – ein wahrhaft gewaltiges Vorhaben – gekrönt auf der einen Seite durch die Elbphilharmonie. Auf der etwas anderen Seite steht, ein wenig ab vom Schuss, dieses schiefe, kleine Häuschen, wie ein auf der Kaimauer gestrandeter Kahn: Die Oberhafen-Kantine.
Seit 1925 steht das Kleine-Schiefe da, hat die Bombennächte des Weltkriegs überlebt und die Verheerungen an der historischen Bausubstanz während des Wirtschaftswunders. Und, darüber hinaus, etliche Hochwasser – manchmal stand ihr die Elbe bis zur Unterkante der Theke im Schankraum.
Schwer Schlagseite hat das Häuschen über die Jahre bekommen, aber umgekippt oder auseinander gefallen ist es nicht. Ja, nicht einmal die Herrscher eines mächtigen Logistik-Konzerns namens Deutsche Bahn, denen der schiefe Bau bei der Verbreiterung ihrer Brücke im Weg war, konnten es schleifen. Die Bahntrasse wurde um das Häuschen gebaut und die Brücke verläuft nur wenige Zentimeter von der Regenrinne im Obergeschoss entfernt. Jeder Zug, der über die Oberhafen-Brücke fährt, zollt dem kleinen Häuschen Tribut, indem er langsamer fährt, als er ohne die Oberhafen-Kantine müsste.
Das Häuschen blieb stehen und steht da noch immer: schief, aber aufrecht. Das ist ein bisschen überraschend. Von mehr als 20 Kaffeeklappen, die es einst im Hamburger Hafen gab, ist es die letzte. Schwein gehabt. Offenbar stand diese keinem Wirtschaftspolitiker oder Investor im Weg, die sich mit einem Häuschen, in dem seit 1925 Kaffee und Frikadellen serviert werden, erfahrungsgemäß nicht lange aufhalten. Und so werden hier immer noch Kaffee und Frikadellen serviert. Das ist eigentlich keine große Sache und trotzdem irgendwie tröstlich und ein schönes Gefühl. Wir nennen es: Heimat.
Er nahm die damals 12jährige Anita von der Schule, sie sollte in der Küche mithelfen. Daraus wurden 72 Jahre, in denen der Betrieb nicht ein einziges Mal unterbrochen war. Bis zum Schluss stand Anita selbst in der Küche. In einer Reportage von 1996 beschreibt Alexander Smoltczyk in der Hamburger Morgenpost die Frau, ohne die es die Oberhafen-Kantine nicht mehr gäbe:
„Die Frau ist immer in Bewegung, jede Rechnung wird nachgerechnet und auf den Pfennig genau bezahlt, jeder Teller per Hand abgewaschen und jede Kartoffel eigenhändig geschält. So war das immer, und die Leute am Oberhafen wissen, dass morgens um fünf der Kaffee fertig ist, und es Brötchen gibt mit Käse oder Mett. Bei Frühschicht nimmt Anita die erste S-Bahn um 4.28 Uhr ab Wellingsbüttel, und wenn sie Spätschicht hat und die letzten Gäste trotz Schieflage den Ausgang nicht finden, ist es manchmal zwei Uhr, bis sie in den Federn ist. Da bleibt keine Gicht an den Knochen hängen. Aber sie hat auch die Statur für so ein Leben. Wer schon immer in der Oberhafenkantine saß, also eigentlich jeder, weiß noch, wie Anita noch vor zwanzig Jahren den Handstand auf einem Kneipenstuhl machte. Handstand! (…)
Durch die Kantinenfenster hat Anita einen Gutteil von Hamburgs Geschichte gesehen. Das war wie ein Logenplatz. Sie weiß noch, wie die Gemüseschuten vom Alten Land anlegten, und wie die Vierländerinnen in Trachten herumliefen, wie die Droschken zur Milchrampe fuhren, um die Züge zu entladen. Anita reichte Tag für Tag Mettwurstbrote durchs Kantinenfenster und knetete Frikadellen. Dann kam der Krieg. Die Bomben fielen immer knapp an der Kantine vorbei, nur die Butzenscheiben flogen heraus. (…) Nach dem Krieg tauschte sie, was zu tauschen war, und hungerte, wie alle hungerten – Hauptsache, die Kantine war morgens geöffnet. (…)
Seit 70 Jahren wissen die Ladearbeiter, dass es hier morgens um fünf frischen Kaffee gibt und Frikadellen und auch ein’n Lütten fürs Ende der Nachtschicht. Und was 70 Jahre läuft, muss auch das 71. hinhauen‘, sagt Anita. Das hat nichts mit Heimatfolklore zu tun. Das ist einfach so.“
1997, einen Tag vor ihrem 84. Geburtstag, ist Anita Haendel gestorben.
So wie Anita die Geschicke der Oberhafen-Kantine für viele Jahre leise und zurückhaltend aber bestimmt lenkte und leitete, genauso wurde sie von Sebastian Libbert wieder dahin geführt, wo sie hingehört: In die Herzen der Hamburger und der vielen Besucher aus aller Welt. Noch immer steht das alte Häuschen da und begeistert durch seinen Charm und gutes, bodenständiges und traditionsreiches Essen die Gäste. Heimat ist das Gefühl, welches vermittelt und gelebt wird. Nach wie vor unprätentiös, leise und unaufdringlich. Und genauso soll es noch lange weitergehen – vielleicht einmal an einem anderen, hochwassergeschütztem Ort … Aber das ist Zukunftsmusik, die wir in aller Ruhe anfangen zu komponieren …
Hier erfahrt Ihr mehr zum schiefen Häuschen, Veranstaltungen und Mitarbeiter. Schaut mal rein …
Ihr wollt wissen, was das Besondere an unserem Labskaus ist?
Essmann über die Oberhafen-Kantine
Song: Julia Wachsmann – Ein Bisschen Schief
Text und Musik: Tim Haufe, Ben Shadow • Produktion: Film Fatal / 2010 • Mit: Julia Wachsmann Oliver Jung uvm.
Regie: Julian Schöneich • Kamera: Henri Schierk, Mateo Bialokozowicz